So wie im letzten Jahr haben wir erneut einen Jahresrückblick geschrieben, der sowohl uns vor Augen halten soll, was wir und andere antifaschistische Kräfte alles geschafft haben, als auch für andere einen Anreiz darstellen, sich politisch einzubringen und zu organisieren.
Es war ein turbulentes Jahr, wir versuchten uns nicht all zu lang zu fassen, was aufgrund der vielen Ereignisse nicht so leicht war. Viel Spaß beim Lesen.
Das Jahr 2020 begann vielversprechend. Ab Februar starteten wir zusammen mit der Antifaschistischen Gruppe 5 aus Bochum unsere Vortragsreihe „Flucht und Ankommen?!“ mit mindestens 6 Veranstaltungen in zwei Städten. Zu diesem Zeitpunkt war das Thema Flucht bei vielen Linken entwas zurückgestellt worden, auch wir konnten nicht erahnen, wie aktuell die Inhalte noch sein würden. Reichten schon bei der ersten Veranstaltung am 4. Februar die Stühle nicht mehr, kamen am 20. Februar in die Kulturfabrik noch einige Menschen mehr und das, obwohl wir die Uhrzeit nach hinten verschieben mussten, da es zuvor noch eine Spontandemo durch Bochum gab, da am Tag zuvor ein Nazi 10 Menschen in Hanau ermordete. Auch unsere dritte Veranstaltung am 3. März “ Die Lager auf Lesbos und der türkische Flüchtlingsdeal“ konnte nicht ohne ein besonderes Ereignis durchgeführt werden. Als Erdogan erneut Krieg auf kurdischen Gebiet führte, hielt er sich europäische Kritik vom Leibe, indem er Geflüchtete an die griechische Grenze brachte, die dann von der griechischen Grenzwache mit Schüssen und Zäunen abgehalten wurden. Niemals war ein Vortrag aktueller!
Leider war dies auch der letzte Vortrag unserer Reihe, so mussten wir nach dem Frauenkampftag am 8. März, den wir auf den kämpferischen Demos in Bochum und Dortmund erlebten, unsere weiteren Veranstaltungen aufgrund der Ansteckungsgefahr von Covid19 und den Maßnahmen der Regierung absagen. Vielen Dank an alle Beteiligten, es hat viel Spaß gemacht! Leider musste wenig später auch die Kulturfabrik wegen deutscher bürokratischer Verordnungen schließen. Wir hoffen, ihr findet bald neue Räume. Auch das Trotz Allem hat seitdem keine Vorträge mehr in Präsenz durchgeführt, ist aber trotzdem auf finanzielle Unterstützung angewiesen. Wenn ihr also noch eine gute Verwendung für euer Weihnachtsgeld braucht, dann legt es mal ins Trotz an!
Haben wir keine Räume, nehmen wir uns die Staße!
Auch wenn uns schmerzlich der soziale Austausch bei Bildungsveranstaltungen, Plena und Partys fehlt, war es für uns keine Option die politische Arbeit einzustellen. So veränderten wir und andere linke Akteur*innen in Witten ihre Praxis und konnten dadurch weiter lokale Akzente setzen. Einen Überblick findet ihr hier. Ein kleiner Erfolg ist, dass es noch vor der Kommunalwahl geschafft wurde, Witten zum „Sicheren Hafen“ zu machen.
Am 8. Mai, 75. Jahrestag der Niederlage des faschistischen Deutschlands, gab es gleich drei antifaschistische Aktionen. Neben unserem Bild, in dem wir uns mit den selbstorganisierten Migrantifagruppen solidarisieren, erinnerte die F:antifa Bochum an Widerstandskämpfer*innen in Bochum und Witten und klebte dafür schwarze Umrisse der Frauen mit Informationen auf. An diesem Tag traten auch das erste Mal die Edelweißpirat*innen in Witten auf und bescherten uns den schönsten Bannerdrop im Jahr 2020 am Hohenstein.
Den restlichen Mai setzten wir uns inhaltlich mit der Polizei auseinander. So beobachteten wir das Verhalten der Polizei und analysierten ihre Öffentlichkeitsarbeit. Auch in Witten gab es mehrere Fälle von Täuschung, Gewalt und Rassismus durch die Polizei. Wir blicken mit Sorgen in die Zukunft – autoritäre Formierung und Herrenmenschattitüde sind ein ernstzunehmendes Problem! Eine Welt ohne Polizei ist möglich!
Dass die Corona-Krise und die Maßnahmen eines kapitalistischen Staates die soziale Ungleichheit noch weiter vergrößern und nicht das Überleben des Menschen, sondern vor allem die Wirtschaft in den Mittelpunkt stellen wird, war uns schon früh bewusst. So konnten wir zusammen mit dem Bündnis Ennepe-Ruhr-stellt-sich-quer und weiteren Bündnispartnern, sowohl der aufkeimenden wissenschaftsfeindlichen Verschwörungsszene das Wasser abgraben und gleichzeitig eigene Inhalte auf die Straße bringen. Die Kundgebung „Solidarität statt Konkurrenz“ am 6. Juni in Witten vor der Stadtgalerie war zugleich der Startschuss für einen erfolgreichen Protest gegen die AfD im gesamten Ennepe-Ruhr-Kreis. Über 100 Menschen demonstrierten in Herdecke gegen die Aufstellung der Kommunalliste und zwangen den kommunalen Ableger dazu, die Aufstellung zu verschieben. Was ihnen sowohl mehr Arbeit, als auch eine Rüge von den lokalen Behörden einbrachte. Ähnlich bitter sah es auch für den landesweiten Wahlkampfauftakt in Ennepetal aus, als 400 hochmotivierte Menschen von jung bis alt den gerade einmal 150 Rechten, die aus dem gesamten Bundesland kamen, mehr als deutlich machten, dass sie hier nicht willkommen sind. Das saß dann wohl erst einmal. Bis auf ein paar Plakate, die aber zeitnah entfernt werden konnten und ein paar Flyer in Briefkästen wenige Tage vor der Kommunalwahl, hatte die AfD im Ennepe-Ruhr-Kreis nicht viel zu bieten. ENSSQ konterte dies mit einer ausführlichen Kampange, welche in 10 Punkten über die Machenschaften der AfD aufklärte, und hielt es in einem Video fest und verbreitete es mittels Flyer.
Nicht verwunderlich, dass sich die AfD–Ergebnisse im Vergleich zur Europawahl mehr als halbierten. Schön zu sehen, dass Protest wirkt. ENSSQ ist zur Zeit so gut organisert, wie noch nie und flächendeckend über den Kreis verteilt. Auch wenn die AfD es in die Parlamente geschafft hat, werden sowohl ENSSQ, als auch wir weiterhin ein Auge auf die rechten Akteure haben. Wenn man die Verstrickungen zwischen Hasenkamp und der AfD in Witten sieht, wird das auch notwendig sein. Auch nutzte ENSSQ den AfD-Bundesparteitag in Kalkar als Aufhänger, um weiterhin vor der AfD zu warnen und zu informieren.
Da die Nazis dieses Jahr zum Glück keine Demonstration zum 9. November in Bielefeld oder sonst wo durchführten, konnten wir die Zeit nutzen und zusammen mit der SDAJ ein antifaschistisches Gedenken an die Opfer der Pogromnacht in Witten durchführen. Auch die Edelweißpirat*innen konnten noch ein bisschen Nazipropaganda entfernen und erinnerten selbst mit einem Transparent an die Verbrechen der Nazis.
Witten Nazifrei!?
Trotz Kommunalwahl konnten wir (fast) keine Naziaktivitäten beobachten. Auch für den AfD-Kreisverband war es ein turbulentes Jahr. So konnte Renkel und sein Gefolge zwar weiter ihre Positionen festigen und Widersacher in den eigenen Reihen rausdrängen, jedoch wurde Renkel zu einem relativ ungüstigen Zeitpunkt als Straftäter verurteilt. Obwohl der Kreisverband eng mit dem Landesvorsitzenden Lucassen verbunden ist, kann die AfD-EN alles andere als neoliberaler, gar konservativer Ableger angesehen werden, wenn man sich zeitgleich die engen Verbindungen zum Faschisten Helferich anschaut. Neben Gefährten, die sich nach der „guten alten Zeit“ sehnen, sind vor allem mehrere junge Akteure in die vorderen Reihen getreten. Sowohl Tim Ceshan, als auch Jan Eickelmann sind im Vorstand der faschistischen Jungen Alternative, die auch einen ziemlich engen Kontakt zu (ehemaligen) Identitären pflegt. So ist es nur ein logischer Schritt, dass der immer noch umtriebige Identitäre Alexander Lehmann zum engeren Umfeld von Renkel gehört. Auch wenn der aktive Kreis der AfD im EN-Kreis sich aktuell nur noch auf rund 20 Menschen beläuft und sie so weit rechts abgebogen sind, dass ihnen viele Wege ins bürgerliche Milieu verbaut sind, haben sie sich am rechten Rand eingenistet und werden über die nächste Wahlperiode hinweg vor allem liberale Lebensentwürfe und linke Räume attackieren. Um so mehr gilt es, sie aus antifaschistischer Perspektive zu isolieren und mögliche Partner zu enttarnen und zu skandalisieren.
Mit der Corona-Krise verstärkte sich zunehmend das Phänomen von Verschwörungstheorien und Antisemitismus. Eine Mischszene aus Querfront, Esoterik und Rechten kritisierten vordergründig die autoritären Maßnahmen des Staates, aber fordert in Wirklichkeit noch viel menschenverachtendere Maßnahmen von Vernichtungen bis Sozialdarwinismus. Witten blieb von größeren Aufläufen und einer rechten Formierung weitestgehend verschont. Nur im April meditierten und bespaßten sich rund 50 Coronaleugner*innen am Rathausplatz gegenseitig und verschwanden in den folgenden Wochen recht schnell wieder. Allerdings wurden vereinzelt verschwörungstheoretische Aufkleber am Hohenstein und ein Transparent mit kruden Botschaften, sowie rote gesprühte Qs (für Qanon) am Haus Witten gesichtet. Also Augen offen halten und wenn es geht, entfernen!
Rechtsradikale konnten bei den Querdenkern in Witten nicht gesichtet werden, jedoch einige (ex-)Linke und Esoteriker*innen. Die Uni Witten/Herdecke sowie das Waldorfinstitut bezahlen einige Dozent*innen, die dieses Jahr durch coronaleugnende und verharmlosende Aussagen und (geplante) Veranstaltungen aufgefallen sind. Auch einige Ärzt*innen, die besonders locker mit Attesten für das Aufheben der Maskenpflicht um sich werfen, wohnen in Witten.
Insgesamt kann man sagen, dass die Querdenkszene zwar krude und durchaus gefährlich ist, aber nicht (rechtsradikal) organisiert ist.
Dies gilt es im neuen Jahr beizubehalten. Denn auch die Identitäre Bewegung hat sich zum Ende des Jahres nach langer Zeit wieder in Witten blicken lassen und versucht jetzt unter dem Namen „Bürgeraufbruch“ an die Querdenker–Szene anzudocken. Auch wenn die Identitären Struturen aktuell kaum Außenwahrnehmung erzielen, sind ihre Kader weiterhin ideologisch gefestigt und agieren jetzt eher klandestin. Das liegt zum einen an einer starken antifaschistischen Recherchearbeit und polizeilicher Verfolgung, zum anderen aber auch daran, dass die Grenzen praktisch dicht sind und kaum noch Geflüchtete nach Deutschland kommen. Wenn sich dies ändern sollte und der deutsche Mob durch Springermedien wieder angeheizt werden, stehen die Faschist*innen wieder in den ersten Reihen und propagieren ihren Menschenhass.
Organisieren und vernetzen!
Dieses Jahr gab es neben dem klassichen „gegen Nazis“ auch noch eine Menge anderer sozialer Kämpfe in Witten, die wir in Kürze vorstellen wollen:
Obwohl die (Straßen-)proteste von Fridays for Future mit Beginn der Pandemie fast vollständig aufhörten, konnte die Ende Gelände Gruppe in Witten einige Akzente setzen und sich weiter vernetzen. Auch andere Crews scheinen die Mär vom individuellen Konsumverzicht zu hinterfragen und das System in Gänze zu kritisieren, was angesichts der Kämpfe um den Danni oder #AlleDörferbleiben am Hambacher Tagebau absolut notwendig ist.
Sowohl durch den rechtsradikalen Anschlag in Hanau am 19. Februar, als auch durch die Ermordung von George Floyd entflammte eine riesige Wut auf den Rassismus der weißen Mehrheitsgesellschaft und die Behörden. Immer mehr von Rassismus Betroffene erhoben ihre Stimmen und organisierten sich in Migrantifa, BlacklivesMatter-Gruppen und Panthifa. Auch wenn dies aktuell in Witten nicht der Fall ist, gab es trotzdem eine Menge empowernder Protestformen. Wir erinnern uns an die eindrückliche Rede von Williams Atweri vom Verein „Begegnung mit Afrika“ auf der ENSSQ–Kundgebung am 6. Juni. Außerdem wurden immer wieder Plakate mit Bezug auf Hanau und Black Lives Matter im Straßenbild und Cafes gesichtet. Am 19.04. wurden zudem Holzkreuze mit der Aufschrift „Rassismus tötet“ in Witten und Bochum aufgestellt und erinnerten an die Opfer rechtsradikaler Morde. Am 13. Oktober gab es einen Vortrag von Alice Hasters über Rassismus und eine Gruppe Wittener*innen hat ein sehenswertes Video über eigene Erfahrungen und Alltagsrassismus gedreht.
Nach dem Brand in Moria sammelten sich am gleichen Tag rund 80 Menschen auf dem Rathausplatz und forderten die sofortige Evakuierung der Geflüchteten. Trotz vollmundiger Versprechen durch die SPD ist bis heute nichts passiert. Im Gegenteil verschlimmmert sich die Situation an den Außengrenzen zunehmend. Auch wenn Witten „Sicherer Hafen“ ist, hilft das den Betroffenen vor Ort durch das Mauern der Regierung und Horst Seehofer wenig. Aus diesem Grund ist die Seebrücke Witten deutlich aktiver geworden und konnte mit einer großen Kundgebung bei strömenden Regen und einer großangelegten Transpiaktion weiter Druck aufbauen.
Durch die Metoo–Debatte 2019 wurden Gleichberechtigung der Geschlechter und Feminismus auf die Tagesordnung gesetzt und auch 2020 haben die Themen nicht an Schärfe verloren. Um so mehr freut uns, dass die feministische Gruppe Witten, die vor allem in universitären Kontexten aktiv ist, wichtige Gedankenanstöße auf vielen Kundgebungen in Witten einbrachte. Außerdem organisierte sie einige Veranstaltungen zusammen mit der Werk°stadt zu den Themen Empowerment und Healthcare und auch das Trotz Allem organisierte in Kooperation mit der Werk°stadt zwei Workshops. Am 13.12. gab es eine feministische Kundgebung, die sich mit dem Frauenstreik und dem Abtreibungsverbot in Polen solidarisierte, wir empfehlen euch dazu den spannenden Podcast mit der Organisatorin Agniezka.
Neben den vielen neuen Gruppen haben sich auch bewährte Strukturen in die sozialen Kämpfe eingebracht. Da sei zum einen das Friedensforum zu nennen, welches mit kleinen Kundgebungen, einem Onlinevortrag und verschiedenen Redebeiträgen auf den Kundgebungen von ENSSQ über die Themen Aufrüstung und Krieg aufklärte. Zum anderen macht der MieterInnenverein Witten eine hervorragende Arbeit gegen Mieterhöhungen und Investor*innen.
Und auch die Kunst- und Kulturszene scheint sich immer mehr mit linken Ideen vertraut zu machen und bringet sich immer stärker ein. Da diese Branche mit am meisten unter den Coronamaßnahmen zu leiden hat, ist hier eine Organisierung bitter nötig, um in Zukunft nicht zu verarmen.
Kämpfe verbinden – rein in das Leben!
Auch wenn es schön anzusehen ist, dass so viele Menschen anfangen, sich auf ihrem Interessensfeld zu organisieren, wird es auf Dauer nicht reichen, wenn jede Gruppe in ihrem Bereich allein operiert. So erzielt man kaum Außenwirkung und erreicht nur die eigene (Algortithmus-)Bubble. Es gilt, sich zu vernetzen und alle gemeinsam für das große Ganze zu kämpfen. Dafür wird es nicht reichen, nur gegen Rechte zu sein, sondern wir müssen analysieren, wer verantwortlich ist – für Abschottung, Politik für Reiche, rassistische Behörden, Klimazerstörung, Aufrechterhaltung patriarchaler Strukturen usw. Hören wir uns an, was die Menschen zu sagen haben, entfachen wir ihre Wut auf die ganze Scheiße und kämpfen wir für eine gerechte und befreite Gesellschaft. Fangen wir im Kleinen und vor unserer Haustüre an. Wir sind die Disteln im Asphalt. Wenn ihr euch antifaschistisch organisieren wollt, Interesse habt, bei einer der genannten Gruppen mitzumachen oder selbst Ideen umsetzen wollt, dann kontaktiert uns. Wir unterstützen gerne!
Vielen Dank an alle, die mit uns so erfolgreich gegen Rechte und Reaktionäre in Witten und Umgebung gekämpft haben. Danke an alle, die uns unterstützt und kritisiert haben. Danke, an alle, die so mutig sind und sich gegen Staat, Nazis, Polizeikräfte und die ganze Scheiße auflehnen!
Auf in ein neues Jahr – Geschichte wird gemacht!